Der Weg
Mit Wegen ist das ja so eine Sache: Feldwege gibt es, Forstwege, Nebenwege, Pfade, Gassen,
Alleen, Kommunalstraßen, Landstraßen, Bundesstraßen, nicht zu vergessen die zahlreichen
Autobahnen, Bahnstrecken, Luftkorridore und Wasserwege. Sie alle sind nicht nur bereits
angelegt, sie sind auch kartographiert oder als geographisches Pilotsystem ins Netz gestellt.
Alles ist fertig, dokumentiert, jeder kann sich überall zurechtfinden. Vorbei die Zeiten, in
denen nur Postkutscher mit Wegen sich auskannten.
Lügen gestraft scheint auch der spanische Dichter Antonio Machado, der seinerzeit noch
mutig dichtete „Wanderer, es gibt keinen Weg, einen Weg erläufst Du dir“ oder „Wanderer,
es gibt keinen Weg, es gibt nur Kielspuren im Meer.“
Und doch – wir ahnen, dass es mehr gibt, als nur die Summe verzeichneter Strecken, dass es
mehr gibt, als den kürzesten oder besten Weg zwischen dem Ausgangs- und dem Zielpunkt.
Das Wort Lebensweg nagt an unserer Gewissheit, alles verzeichnen, alles abbilden zu
können.
Auch wenn wir uns in der Natur bewegen und dort auf die Pfade der Wildwechsel stoßen,
von denen wir nicht wissen, woher sie kommen, noch wohin sie führen, werden wir mitunter
nachdenklich. Manchmal müssen wir gar, weil wir uns verirrt haben, einen Weg uns bahnen.
Dann brechen wir aus dem Vorgezeichneten, dem Vorgesehenen aus. Schließlich spiegelt
selbst eine Fahrt ins Blaue unsere Sehnsucht, das Berechnete, das Planvolle zu verlassen:
einfach losfahren, jederzeit die Richtung ändern können, bei Erschöpfung pausieren, bei
Erholung weiterfahren – ziellos.
Neue Wege aber einzuschlagen bedarf es Mutes. Wir trennen uns ungern vom Gewohnten,
von dem, was uns Sicherheit vermittelt. Anstrengend ist es allemal, etwas Neues zu
beginnen. Und doch „wohnt“ – und hier begegnen wir einem weiteren Dichterwort – „jedem
Anfang ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben.“
Dieser Zauber ist es wohl, der so viele antreibt, Gewohnheiten abzulegen, Neues zu wagen,
die Welt verändern oder verbessern zu wollen. Sie folgen dabei einem inneren Kompass,
Heilsversprechungen oder, wie einst die Heiligen drei Könige, Naturerscheinungen. Der Weg
dieser Menschen ist ein zu gehender, ein nicht vorgezeichneter. Häufig sind sie Einzelgänger,
Missverstandene, weil ihnen niemand folgen kann oder will. Verstanden zu werden ist auch
nicht ihr Ziel. Ihr Ziel liegt in ihrer Bestimmung. Häufig wissen nur sie allein, warum sie ihren
– oft beschwerlichen – Weg gehen, anstatt sich, wie so viele andere, in der Welt einzurichten
und es sich in ihr einfach nur gut gehen zu lassen.
Diesen Menschen, denen wir vielleicht mit Skepsis oder Ablehnung begegnen, kann es dann
durchaus passieren, dass sie, ähnlich wie Caspar, Melchior und Baltasar, an ihrem Ziel
angekommen, einem neuen Anfang begegnen. Er wird sie schützen und ihnen helfen zu leben.
Aus: Der neugierige Ochs
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(Alle Rechte bleiben
beim Autor)
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